Die Tücken des Stoizismus: Eine kritische Betrachtung des Zitats "Ertragen und Verzichten"

Wie viele angehende Stoiker das Zitat missverstehen und sich selbst im Weg stehen
Das Zitat "Ertragen und Verzichten" zieht viele angehende Stoiker magisch an. Oft wird es dem Philosophen Epiktet zugeschrieben, und es könnte durchaus sein, dass er es tatsächlich gesagt hat. Die ursprünglichen griechischen Begriffe lauten anekhou und apekhou. Eine ältere Übersetzung dieser Worte durch Oldfather lautet "Ertragen und Dulden".
Dieses Mantra scheint auf den ersten Blick eine Essenz der stoischen Philosophie zu sein. Es wird als Ausdruck der inneren Stärke gesehen, die der Stoizismus verspricht. Man findet es in zahlreichen Online-Zitaten, auf allerlei "stoischen" Merchandise-Artikeln und sogar als Tattoo auf der Haut von Menschen, die stolz Fotos davon in stoischen Online-Gruppen teilen.
Die Suche nach der Quelle
Wer jedoch versucht, die Herkunft dieses Zitats zu ergründen, wird in den beiden Hauptwerken von Epiktet, den "Unterredungen" und dem "Handbüchlein der Moral", vergeblich suchen. Tatsächlich stammt der Ausdruck aus den "Fragmenten", also Zeugnissen anderer Autoren über Epiktet. In diesem speziellen Fall findet sich der Ausdruck am Ende einer längeren Passage in Aulus Gellius' lateinischem Werk "Attische Nächte". Gellius berichtet, was der skeptische Philosoph Favorinus über Epiktet zu sagen hatte.
Ein kritischer Blick auf die Glaubwürdigkeit
Angesichts dieser komplizierten Überlieferungskette könnte man die Glaubwürdigkeit des Zitats "Ertragen und Verzichten" in Frage stellen. Noch interessanter ist jedoch die Frage, ob es wirklich klug ist, dieses Mantra isoliert zu betrachten, oder ob man sich damit nicht selbst in die Irre führt.
Der Kontext macht den Unterschied
Wenn man das Fragment vollständig liest, wird klar, dass es nicht darum geht, einfach alles zu ertragen oder zu verzichten. Epiktet betonte, dass zwei Laster besonders schwerwiegend sind: das Fehlen von Ausdauer und das Fehlen von Selbstkontrolle. Es geht also nicht darum, blindlings alles zu ertragen oder zu verzichten, sondern nur das, was man wirklich sollte.
Die Gefahr der Vereinfachung
Das Problem vieler angehender Stoiker ist, dass sie den Stoizismus auf einfache Zitate oder Lebensweisheiten reduzieren. Dabei verlieren sie den komplexen Kontext, der für ein echtes Verständnis des Stoizismus notwendig ist, aus den Augen. Das Ergebnis ist oft kontraproduktiv und führt zu einer Verschlechterung statt einer Verbesserung des eigenen Zustands.
Die Rolle der Tugenden
Ein echter Stoiker oder eine echte Stoikerin muss die Tugenden kultivieren, insbesondere die Klugheit oder praktische Weisheit. Es ist also nichts spezifisch Stoisches daran, einfach nur zu "ertragen" oder zu "verzichten".
Eine wichtige Warnung
Epiktet warnte, dass die Lehren der Philosophie, wenn sie in eine falsche und entartete Person gegossen werden, verdorben werden können. Viele Menschen behandeln philosophische Texte entweder wie Talismane, die sie magisch transformieren, oder wie universelle Regeln, die keiner weiteren Überlegung bedürfen. Und dann wundern sie sich, dass die Dinge immer noch schiefgehen.
Fazit
Das Zitat "Ertragen und Verzichten" ist mehr als nur ein einfaches Mantra. Es ist ein komplexer Ausdruck einer Philosophie, die ein tiefes Verständnis und eine sorgfältige Anwendung erfordert. Wer den Stoizismus auf solche Schlagworte reduziert, tut sich selbst keinen Gefallen. Es ist wichtig, die stoische Philosophie in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen und die Tugenden zu kultivieren, die sie lehrt. Nur so kann man die innere Stärke entwickeln, die der Stoizismus verspricht.