Kann Liebe wirklich alle unsere Probleme. Konflikte und Sorgen lösen?
“All you need is love.” sang John Lennon 1967 und sein Lied wurde nicht nur zu einem Hit und danach zum Evergreen, sondern steht nach wie vor für eine tief verwurzelte Überzeugung. Außerdem schlug der gute John seine beiden Frauen, setzte eines seiner Kinder aus, beschimpfte seinen schwulen jüdischen Manager mit homophoben und antisemitischen Sprüchen und machte sich über behinderte Menschen lustig.
2005 schrieb Trent Reznor von Nine Inch Nails, der nun so gar nicht meinem Musikgeschmack entspricht, den Song "Love Is Not Enough".
Obwohl Reznor für seine schockierenden Bühnenauftritte und seine grotesken und verstörenden Videos berühmt war, wurde er von allen Drogen und vom Alkohol clean, heiratete eine Frau, bekam zwei Kinder mit ihr und sagte dann ganze Alben und Tourneen ab, damit er zu Hause bleiben und ein guter Ehemann und Vater sein konnte.
Einer dieser beiden Männer hatte ein klares und realistisches Verständnis von Liebe. Einer von ihnen nicht. Einer der beiden Männer idealisierte die Liebe als Lösung für alle seine Probleme. Einer von ihnen tat das nicht. Einer der beiden Männer war wahrscheinlich ein narzisstisches Arschloch. Einer von ihnen war es nicht.
Weil wir die Liebe idealisieren, überschätzen wir sie.
In unserer Gesellschaft wird die Liebe von den meisten idealisiert und als Allheilmittel für wirklich alle Probleme angesehen. Romane, Lieder, Filme stellen sie als das ultimative Ziel unseres Lebens dar und als Lösung all unserer Sorgen und Schmerzen. Weil wir die Liebe idealisieren, überschätzen wir sie und das hat oft zur Folge, dass wir in Beziehungen einen hohen Preis zahlen.
Wenn wir tatsächlich der Songzeile “love is all you need” glauben, vernachlässigen wir so wie Lennon, die grundlegenden Werte wie Demut, Respekt und das Engagement für Menschen, die uns wichtig sind. Warum sollte man sich denn mit den wirklich schwierigen Dingen auseinandersetzen, wenn doch die Liebe alles löst?
Glauben wir aber Reznor, wissen wir auch, dass gesunde Beziehungen mehr brauchen als reine Emotionen oder überschwängliche Leidenschaften. Wir wissen, dass es in unserem Leben und in unseren Beziehungen wichtigere Dinge gibt, als einfach nur verliebt zu sein. Und der Erfolg unserer Beziehungen hängt von diesen tieferen und wichtigeren Werten ab.
Unrealistischen Erwartungen sabotieren dann genau die Beziehungen, die uns wichtig sind.
Das Problem mit der Idealisierung der Liebe ist, dass wir dadurch unrealistische Erwartungen an die Liebe entwickeln. Diese unrealistischen Erwartungen sabotieren dann genau die Beziehungen, die uns wichtig sind.
Um es deutlicher zu sagen: Nur weil du dich in jemanden verliebst, heißt das noch lange nicht, dass er ein guter Partner oder eine gute Partnerin für dich ist. Liebe ist ein emotionaler Prozess. Kompatibilität ist ein logischer Prozess. Und beides lässt sich nicht so gut miteinander vereinbaren.
Es ist möglich, sich in jemanden zu verlieben, der uns nicht gut behandelt, der uns ein schlechteres Selbstwertgefühl gibt, der uns nicht den gleichen Respekt entgegenbringt wie wir ihm (oder ihr), oder der selbst ein so gestörtes Leben führt, dass er uns mit sich in den Abgrund zu reißen droht.
Es ist möglich, sich in jemanden zu verlieben, der andere Ambitionen oder Lebensziele hat, die unseren eigenen widersprechen, der andere philosophische Überzeugungen oder Weltanschauungen vertritt, die mit unserer eigenen Wahrnehmung der Realität kollidieren.
Es ist möglich, sich in jemanden zu verlieben, der unser Glück verhindert.*
Oft genug habe ich katastrophale Beziehungen mitbekommen, von denen viele aus einem Gefühl heraus eingegangen wurden. Beide fühlten die Schmetterlinge im Bauch, den Funken oder das Feuer der Leidenschaft und stürzten sich Hals über Kopf hinein. Dabei sahen sie darüber hinweg, dass der Partner oder die Partnerin alkoholkrank, rechtsextrem oder spielsüchtig war oder an Engel, unsichtbare Kraftfelder und Wunderheilung glaubte. Es fühlte sich einfach richtig an.
Ein halbes Jahr später, wenn die Fetzen fliegen, das Bankkonto leergeräumt ist oder die Wohnung mit Klebenotizen ans Universum tapeziert ist, fragen sich die einstmals so Verliebten, ab wann die Sache so auf dem Ruder gelaufen ist.
Die Wahrheit ist, dass sie aus dem Ruder gelaufen war, bevor es überhaupt angefangen hat.
Wenn wir einen Partner oder eine Partnerin suchen, sollten wir nicht nur unser Herz, sondern auch unseren Verstand nutzen. Klar, man will jemanden finden, der oder die dieses bestimmte Kribbeln auslöst und uns den Himmel voller rosa Wölkchen zaubert. Wir sollten aber auch die Werte dieser Person beachten, wie sie mit sich selbst und ihren Mitmenschen umgeht, welche Ziele und Weltanschauungen sie verfolgt
Liebe löst nicht alle Probleme.
Auch wenn Lennon uns es nicht glauben lassen will: Liebe kann nicht alle Probleme lösen. Für die allermeisten Probleme, die von außen auf uns zukommen und jene, die in unseren Paarbeziehungen entstehen, braucht es Fairness, Respekt, Solidarität und ja, auch eine gehörige Portion Vernunft. Wenn eine besorgte Mutter ihrer Tochter, die gerade im Begriff ist mit einem zukünftigen Rockstar durchzubrennen, nachruft “Liebe zahlt aber die Stromrechnung nicht!”, mag das unromantisch klingen, birgt dennoch einen enormen Wahrheitsgehalt.
Liebe ist es nicht immer wert, sich selbst zu opfern
Eines der wichtigsten Merkmale der Liebe ist, dass du in der Lage bist, über dich selbst und deine eigenen Bedürfnisse hinaus zu denken, um dich auch um eine andere Person und ihre Bedürfnisse zu kümmern.
Aber die Frage, die nicht oft genug gestellt wird, ist, was genau du opferst und ob es das wert ist?
In einer Liebesbeziehung ist es normal, dass beide Menschen gelegentlich ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und ihre Zeit füreinander opfern. Ich würde sagen, dass das normal und gesund ist und einen großen Teil dessen ausmacht, was eine Beziehung so großartig macht.
Aber wenn es dazu kommt, dass man seine Selbstachtung, seine Würde, seinen Körper, seine Ambitionen und sein Lebensziel opfert, nur um mit jemandem zusammen zu sein, dann wird genau diese Liebe problematisch. Eine liebevolle Beziehung soll unsere individuelle Identität ergänzen, nicht beschädigen oder ersetzen.
Wenn wir uns in Situationen befinden, in denen wir respektloses oder missbräuchliches Verhalten tolerieren, dann ist es genau das, was wir tun: Wir erlauben unserer Liebe, uns zu verzehren und zu negieren, und wenn wir nicht aufpassen, werden wir zu einer Hülle der Person, die wir einmal waren.
An der Empfehlung, dass in einer Partnerschaft beide einander auch beste Freunde sein sollten, ist schon viel Wahres dran und es ergibt sich daraus folgende Frage:
Würdest du die negativen Verhaltensweisen deines Partners oder deiner Partnerin bei deinem besten Freund oder deiner besten Freundin tolerieren?
In vielen belastenden Paarbeziehungen würde die ehrliche Antwort wohl eindeutig “Nein!” lauten.
Allen die immer wieder blind vor Liebe sei gesagt:
Du kannst dich im Laufe deines Lebens in eine Vielzahl von Menschen verlieben. Du kannst dich in Menschen verlieben, die gut für dich sind und in Menschen, die schlecht für dich sind. Du kannst dich auf gesunde und auf ungesunde Weise verlieben. Du kannst dich verlieben, wenn du jung bist und wenn du alt bist. Liebe ist nicht einzigartig. Liebe ist nicht besonders. Liebe ist nicht rar.
Aber deine Selbstachtung und deine Würde sind es!
* Wie dir sicher aufgefallen ist, habe ich das Gendern in diesem Artikel nicht wirklich konsequent durchgezogen. Es hätte den Text meiner Meinung nach ziemlich schwer lesbar gemacht. Sollte dir das ein derart schwerwiegendes Problem sein, dass der Inhalt des Geschriebenen nicht mehr zu dir durchdringen kann, tut mir das leid....für uns beide!
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