Nachdenken über ein Gefühl.
Als mir vor einigen Jahren an einer meiner Mitarbeiterinnen, wir wollen sie Inge nennen, erste Anzeichen eines Burnouts und ein gewisser Rückgang ihrer Teamfähigkeit auffiel, bestellte ich für sie eine Supervisorin um sich der Sache anzunehmen. Nachdem Inge und die Supervisorin miteinander einen Vormittag verbracht hatten, erklärte mir Letztere in der anschließenden Ergebnisbesprechung mit überraschend betroffener Mine: “Also diese Frau steht am Rande eines Burnouts! Sie hat momentan eine Menge zu tragen!”
Soviel wusste ich zuvor auch schon, aber der Respekt gebot mir, nicht weiter bei der Supervisorin nachzufragen. Daher wandte ich später an Inge, um zu erfahren, wie sie die Supervision empfunden hätte. Inge schüttelte verständnislos den Kopf und meinte:
“Also diese Frau hat mir überhaupt nicht geholfen. Nachdem ich ihr erzählt hatte, wie es mir zur Zeit so geht, hat sie eine halbe Stunde meine Hand gehalten und geweint. Sowas kann ich echt nicht brauchen!”
Ich verstand Inges Befremden und ich habe die Supervisorin seither nicht wieder engagiert. Freilich war ihr Verhalten nicht nur wenig hilfreich und unprofessionell, es lässt auch auf eine eigenartige, wenn auch weit verbreitete Vorstellung von Mitleid schließen.
Wie ein ehemaliger Sklave über Mitleid denkt
Mir fiel damals dazu ein Zitat von Epiktet ein:
"Wenn du einen in tiefer Betrübnis um ein Kind siehst, das in die Ferne zieht, oder weil einer sein Vermögen verloren hat, so gibt acht, dass dich nicht die Vorstellung übermannt, er wäre wirklich wegen dieser äußeren Dinge unglücklich…Soweit es nun mit Worten geht, zögere nicht, an seinem Leid Anteil zu nehmen und wenn es nicht anders geht, magst du auch mit ihm seufzen. Gib jedoch acht, dass nicht auch deine Seele seufzt!"
Man könnte meinen, dass Epiktet vor fast 1900 Jahren mit diesen Sätzen klar die anzustrebende professionelle Haltung gegenüber den Klienten für alle umriss, die im therapeutischen, beratenden oder pädagogischen Bereich arbeiten. Gerade jene Therapeuten und Therapeutinnen, die meinen, den Sorgen ihrer Klienten mit möglichst viel Empathie begegnen zu müssen, sollten über Epiktets Worte nachdenken, vor allem wenn sie besagte Empathie mit völligem Eintauchen in die Gefühlswelt des Gegenübers verwechseln. Sie empfinden tatsächlich Mitleid im ursprünglichsten Wortsinn, indem sie mit ihrem Klienten leiden. Sie vergleichen die Kümmernisse ihres Klienten mit ihren eigenen schmerzhaften Erlebnissen und meinen gerade durch diese Art der Hingabe besonders gute Arbeit zu leisten. Dies mag auch mit einer Tendenz erklärbar werden, die sich sehr oft im Milieu der therapeutisch, beratend und auch pädagogisch Tätigen beobachten lässt. Nämlich dass diese Berufsfelder eine nahezu magische Anziehungskraft für jene haben scheint, die glauben, eigene Verletzungen und überstandenes Leid würden sie besonders für den Job prädestinieren. Bloß ist dieses Leid bei vielen noch kaum überstanden und so meinen sie anderen helfen zu können, in dem sie ihre eigenen kaum verheilten Wunden wie ein Ehrenzeichen tragen.
Man kann nun freilich einfach behaupten, dass Epiktet ein gefühlskalter Kerl aus einer gefühlskalten Epoche gewesen sei, der nur deshalb so grausam sprechen konnte, weil er nie eigenes Leid erfahren hatte. Dem kann man entgegenstellen, was wir sonst noch so über Epiktet wissen. Als freigelassener Sklave lebte er in Rom ein derart ärmliches Leben, dass sein Haus keines Riegels bedurfte. Er hinkte seitdem ihm sein Herr das Bein zertrümmert hatte, was Epiktet mit stoischer Gelassenheit ertragen haben soll. Epiktet blieb zeitlebens unverheiratet, soll aber das verwaiste Kind eines Freundes großgezogen haben, das sonst ausgesetzt worden wäre.
Das liest sich dann doch nicht wie die Biografie eines grausamen Rohlings. Ich denke, dass Epiktet klar erkannt hat, wie schmal der Grat zwischen Mitleid und Selbstmitleid ist. Er bezweifelte stark, dass Mitleid eine geeignete Triebfeder sei, um sich dem Elend seiner Menschen anzunehmen. Nach Ansicht der Stoiker war die moralische Verpflichtung andern zu helfen, ein Gebot der Vernunft und nicht das einer Emotion.
Über die Güte
So schrieb auch Seneca in seinem Werk De Clementia (dt. Über die Güte):
Der Weise […] fühlt kein Mitleid, weil dies ohne Leiden der Seele nicht geschehen kann. Alles andere, das meiner Ansicht nach die Mitleidigen tun sollten, wird er gern und hochgemut tun: zu Hilfe kommen wird er fremden Tränen, aber sich ihnen nicht anschließen; reichen wird er die Hand dem Schiffbrüchigen, […] dem Armen eine Spende geben, aber nicht eine erniedrigende, wie sie der größere Teil der Menschen, die mitleidig erscheinen wollen, hinwirft und damit die verachtet, denen er hilft."
Seneca schwebt also ein ideales Handeln vor, dass der Vernunft entspringt, für den Hilfsbedürftigen deshalb jedoch nicht weniger wirksam ist. Im Gegenteil, sieht doch ein emotional unbewegter Geist in Notsituationen bei weitem mehr Möglichkeiten zur Hilfestellung, als ein durch Gefühle schier Gelähmter. Dem Leidenden wird diese Art der Anteilnahme letztlich mehr bringen, als gemeinsames Schwelgen im Leid. Interessant ist auch noch der Aspekt den Seneca mit diesen Sätzen anspricht, indem er meint, dass sich mitleidige Hinwerfen wäre ein Akt der Selbstanmaßung, da ja der Bemitleidende vorgibt, das Leid seines Gegenübers nicht nur zu fühlen, sondern sich nahezu selbst aufzubürden. Hier widerspricht Seneca auch der Ansicht “geteiltes Leid sei halbes Leid”
Vermutlich sollte man sich mehr darum Bemühen die Begriffe Mitgefühl und Mitleid voneinander klarer zu unterscheiden. Zwar war für Aristoteles die zumindest teilweise Identifikation mit dem leidenden Gegenüber Voraussetzung um Mitleid zu empfinden, was jedoch nicht heißt, dass mitzuleiden Voraussetzung ist, sich mit dem Gegenüber zu identifizieren. Einfacher ausgedrückt: Um mich mit dir identifizieren zu können, bedarf es der Anteilnahme (weniger stoisch geprägt, mag man sie auch Mitgefühl nennen) jedoch nicht des Mitleids. Bemitleide ich dich, so identifiziere ich mich eher mit deinem Leid, mache es zu meinem eigenen, womit wir wieder bei der Anmaßung wären. Es ist dieser feine Unterschied zwischen dem “Ich weiß wie es dir geht” und dem “Ich kann mir vorstellen wie es dir geht”
Buddhismus und das Mitleid
Interessanterweise trifft auch der Buddhismus eine klare Unterscheidung zwischen Mitgefühl und Mitleid. Nach buddhistischer Sichtweise ist es nicht anzustreben, das Leid zu teilen und den Schmerz des Mitmenschen selbst zu übernehmen. Alleine schon deshalb, weil jeder Mensch für sein eigenes Geschick verantwortlich ist. (Ähnlich wie es auch Alfred Adler hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen mit dem Begriff Aufgabentrennung meint.)
Anders verhält es sich aus des Perspektiver des Buddhismus mit dem Mitgefühl. Die Fähigkeit des Mitfühlens ermöglicht es uns anzuerkennen, dass Mitmenschen Leid und Last ertragen müssen.
Keine Chance den Egoisten!
Auf keinen Fall darf die Sichtweise der Stoiker auf das Mitleid als Rechtfertigung für Egoismus missbraucht werden. Wer dies tut, verschweigt vorsätzlich, dass in der Stoa das Wohl des Mitmenschen und der Gemeinschaft einen zentralen Stellenwert hat.
"Wir sind zur Gemeinschaft geschaffen wie Füße, wie Hände, die untere und die obere Reihe unserer Zähne."
Die Verpflichtung sich des Leidens seiner Mitmenschen anzunehmen entspringt bei den Stoikern aber der Vernunft und nicht einem Affekt. Es liegt auf der Hand, von welcher Zugangsweise der Leidende mehr hat.
Der Versuch Leid aufzulösen
Jenen, die sich in ihrer Helferrolle vom emotionalen Leid ihrer Mitmenschen nur zu leicht anstecken lassen, oder jene, die im extremen, jedoch keineswegs seltenen Fall am fremden Leid unter dem Deckmantel des Samariters nahezu ergötzen, sollten sich auf jeden Fall mit der stoischen Sichtweise beschäftigen.
Denjenigen, die von Gefühl des Mitleids wirklich überrollt werden, weil leidende Person dem engsten Umfeld angehört, könnte das Nachdenken über die stoische Haltung die unmittelbare Betroffenheit mildern und somit ein gewissen Maß an Handlungsfähigkeit vermitteln. Denn je näher uns der leidende Mitmensch steht, umso unmittelbarer und authentischer fühlen wir sein Leiden mit, umso weniger können wir uns des Gefühls erwehren. Nicht anders wird es auch den antiken Stoikern ergangen sein, die ihr Ideal der Ataraxie als ebenso erstrebenswert wie unerreichbar sahen. Der Versuch, eine rationale Haltung gegenüber dem eigenen Leid und dem der Mitmenschen einzunehmen, entsprang der Absicht, das Leid selbst so weit wie möglich aufzulösen.
So gesehen ist die Sorge, man könne den stoischen Umgang mit dem Mitleid missbrauchen, vielleicht unbegründet. Denn dem emotional Ausgeglichenen und Gesunden, der sich bemüht, den stoischen Idealen zu entsprechen, wird es ohnehin nie gelingen, sich vollkommen vom Affekt-Charakter des Mitleids zu lösen. Der Psychopath aber bedarf der Stoa nicht, um sein egoistisches Handeln zu rechtfertigen.
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